Überfahrt

Wellen schlugen gegen das Boot. Der Kanal schimmerte gespenstisch schön im Mondlicht. Nick Grün fröstelte in seinem Sommermantel. Und doch zog er es vor, draußen zu bleiben. Es war gar nicht so sehr der Gestank von altem Fisch, der ihn aus der engen Kajüte vertrieben hatte, mehr die stummen Blicke der Mannschaft. Sie wirkten nicht wirklich anklagend, auch nicht neugierig, eher ungläubig, teils, so meinte Grün, furchterfüllt. (Was bisher geschah)

Klar, es war sicher nicht die normalste Art, von Britannien nach Frankreich überzusetzen, aber das war den Jungs doch sicher auch klar, immerhin hatten sie einen dicken Packen Scheine dafür bekommen – und das nachdrückliche Wort seines neuen Freundes, des Polizisten, dass hier alles schon seine Richtigkeit hatte. Aber das allein schien nicht das Problem zu sein. Aus irgendeinem Grund hielt es die Crew für sehr ungewöhnlich, ja, den Blicken nach zu urteilen, für völlig verrückt, dass ein dunkler Typ mit schwarzem Bart ohne großes Aufsehen von Großbritannien auf den Kontinent übersetzen wollte. Wohin er wolle, hatte ihn einer gefragt. Nach Hause, antwortete Nick wahrheitsgemäß. Die Antwort wurde mit einem ungläubigen Lächeln und noch mehr Blicken gewürdigt. Als einer wissen wollte, was er von Allah halte, wurde es Nick Grün zu bunt. Seitdem kauerte er auf einem Haufen nautischem Zeugs im Windschatten des Führerhauses, starrte über die schönen kalten Wellen und fröstelte. Hier bekam die Bezeichnung „kalter Entzug“ eine ganz neue Bedeutung. In Nick Grüns von jahrelangem Alkoholmissbrauch gemarterten Hirn kristallisierte sich der Eindruck heraus, dass ihm ein paar wichtige Informationen über diese Welt fehlten. Als lebten plötzlich alle nach einem Code, den Nick nicht mehr verstand. Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war, sich zu erinnern.

Fetzen, Szenen, Personen aus vergangenen Zeiten tauchten aus dem schwarzen Wasser auf, blieben über der Reling hängen, manche flüsterten ihm etwas zu, nur um dann wieder ins endlose Nichts zu versinken. In seinem Alkohol-Entzugs-Delirium sah Nick Regensburg und Thea. Beide ewig schön und unnachgiebig. Ihre langen Gespräche in zahllosen Kneipen und am Ufer der Donau, die mit der steigenden Anzahl von leeren Weinflaschen, die in dem braunen Strom verschwanden, immer metaphysischer wurden. Theas Theorie über die Liebe zum Beispiel. Wie sie Nick erklärte, warum sie problemlos für einige Tage furchtbar in ihn verliebt sein konnte, trotz Freund in Berlin und Liebhaber in München. Nick hatte die Geschichte schon damals als eloquente Lüge entlarvt und es war ihm egal. Nur dass der Liebhaber damals schon Klaas Weniger hieß, wusste Nick zu jenem Zeitpunkt nicht. Klaas Weniger. Nick hatte ihn als intelligenten, vielleicht etwas hinterhältigen, aber harmlosen Zeitgenossen kennengelernt. Jemand, mit dem man wunderbar um die Häuser ziehen konnte und auf den man sich besser nicht verließ, wenn es ernst wurde. Nick gefiel die Welt, in die ihn Klaas entführte. Die Münchner High-Society, die Welt der Stars und Sternchen. Und Thea gefiel, was Klaas für sie in dieser Welt tun konnte. Der Rest war Geschichte. Nick blieb in seinem kleinen Regensburg, überließ Thea und Klaas ihrer Welt, und fing an, Provinzkrimis zu schreiben.

Und jetzt suchten sie ihn beide heim. Klaas mit einem sonderbaren Anruf und Thea tot in seinem See. Und Nick Grün war plötzlich ein Flüchtling. Das alles musste irgendwie zusammenhängen. Soviel war selbst Nick klar.
Mal sehen, Krimis schreiben und selbst einen Kriminalfall zu lösen – das konnte doch nicht so verschieden sein. Der Autor war sich inzwischen fast sicher, dass er Thea nicht selbst getötet hatte. Es war einfach nicht logisch. Selbst unter Drogeneinfluss, selbst im Streit. Die traurige Wahrheit war: Thea hatte ihn damals so sehr verletzt, dass von ihr nichts mehr hätte kommen können, was ihn derart in Rage versetzt hätte.
Also wollte ihn jemand hinhängen. Klaas. Aber warum nur? Und was sollte der seltsame Schriftzug? Der passte so gar nicht zum Rest. Was war das für eine Geschichte – Nick brachte seine große Liebe am Kamin um, aus Wut, Eifersucht, Verzweiflung, was auch immer, zerrte sie – ohne einen Tropfen Blut zu verlieren, denn sonst gab es keine Spuren im Haus – in den See und ließ sie dort schwimmen. Dann kehrte er zu jener Blutlache zurück, schrieb einen blödsinnigen lateinischen Satz aus seinen Büchern mit Theas Blut an die Wand, setzte einen Smiley darunter – und dann legte er sich hin. Die Geschichte ergab keinen Sinn. Hätte Nick mit solchen Plots seine Krimis geschrieben, er würde heute wohl eher in einer schottischen Sozialwohnung mit Asphaltblick  wohnen. Wenn ihm jemand Thea Königs Tod anhängen wollte, hatte er sich entweder in letzter Minute sehr dumm angestellt – oder etwas war komplett schief gelaufen.

Nick wünschte sich etwas zu trinken. So kommst du nicht weiter. Mach’s wie in deinen Krimis, konzentriere dich auf die einfachen Wahrheiten. Nick holte sein schwarzes, abgenutztes Moleskine-Notizbuch hervor und schrieb in großen Druckbuchstaben „Thea“ in die Mitte einer leeren Seite. Dann malte er einen Kreis darum. Dasselbe mit „Klaas“. Dann zögerte er und setzte seinen Eigenen Namen dazwischen. Schließlich fügte er „Sergeant Kerr“ etwas kleiner und abseits hinzu. Konnte er ihm vertrauen? Sie hatten sich fast freundschaftlich verabschiedet, als ihn Ulysses Kerr an dieser verlassenen, finsteren Bucht absetzte. Ein Lächeln, ein kurzer Druck am Oberarm. In letzter Sekunde ließ Kerr noch ein Prepaid-Handy in Nicks Manteltasche gleiten, das er kurz zuvor in einer Raststätte gekauft hatte. „Meine Nummer ist eingespeichert. Benutzen Sie es nur dafür. Keine SMS, nur Anrufe, klar?“
„Klar“, antwortete Nick, auch wenn ihm so gar nichts klar war. Schon gar nicht, was Sergeant Kerr anging. Hatte er mit seinem Monolog über Ehre den alten dicken korrupten Sheriff wirklich erreicht? Eins war tatsächlich klar: Mit Nicks Flucht machte Kerr sich keine Freunde und versagte sich die Festnahme seines Lebens. Deshalb und weil Nick ihn von Anfang an gemocht hatte, vertraute er dem Puddinggesicht. Und weil er kaum eine andere Wahl hatte.

Nick Grün, Thea König, Klaas Weniger – was verband die drei miteinander? Eine Liebesgeschichte, ziemlich unglücklich was Nick anging. Und sonst? Ihre gemeinsame Zeit in Regensburg, München und am Tegernsee. Und ja, Nicks Roman, der von dieser Zeit handelte. Das Buch. Nachdem es einen eigenen Platz in Nicks Notizbuch erhalten hatte, kramte Nick nach dessen Resten in seiner Umhängetasche. Ein Teil war in Flammen aufgegangen. Dann waren da die vor Jahren geschriebenen und feinsäuberlich zusammengetackerten Versatzstücke – von denen eins seit letzter Nacht fehlte. Sie waren nicht getitelt, hatten auch keine Reihenfolge. Mehrere Hefte beschrieben Szenen mit Thea, ein Besuch in Regensburg, ein Nachmittag im Café. Ein Spaziergang an der Donau. Die schienen vollständig. Die anderen enthielten lose Szenen, alle abgeschrieben aus seinen Tagebüchern. Kneipengespräche, Erlebnisse in Regensburg, erfundene Geschichten, alles, was Grün für verwertbar gehalten hatte. Die Szenen waren lose nach Jahreszahlen geordnet, teils mit Datum versehen. Es fehlten die Jahre 2010 und 2011. Die Zeit mit Klaas. Kurz bevor Thea Nick verlassen hatte. Offenbar Szenen, die es Wert waren, dafür zu morden.

Nick Grün konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so nüchtern gefühlt hatte. Er tastete seine Manteltaschen ab – tatsächlich – Sergeant Kerr war so umsichtig gewesen und hatte ihm seinen Tabak eingesteckt. Mit dem Glücksgefühl, wie es nur ein Raucher empfinden kann, drehte er sich eine Zigarette. Die Leute meinten immer, ein Kater wäre etwas Schreckliches. Aber das stimmte nicht. Er gehörte zum Leben eines Trinkers wie der Rausch und war manchmal sogar besser. Ein unglaubliches Gefühl der Klarheit. Die Welt braust ungefiltert auf einen ein. Gedanken so scharf, dass man aufpassen muss, sich nicht daran zu schneiden.

Nick ließ den Satz immer wieder über die Wellen hüpfen, fast genüsslich: Szenen, die es Wert waren zu morden. Nick lächelte. Er hätte nie gedacht, dass er so gut war. Aber so musste es wohl sein: Für irgendetwas, das zwischen Januar 2010 und August 2011 stattgefunden hatte, die drei Protagonisten unfreiwillig miteinander verband und das Nick aufgeschrieben hatte, musste Thea König sterben und Nick lebenslang hinter Gittern.

Der Krimiautor schob sich seine Selbstgedrehte zwischen die Lippen und blickte ins schwarze Nichts hinter dem Horizont. Er empfand das seltsam befreiende Gefühl, unterwegs zu sein. Erst jetzt wurde Nick Grün klar, wie sehr es ihn schon lange von diesem schottischen See hinaus in die Welt gezogen hatte. Dieses Kitzeln in der Magengrube, bei jedem Windstoß der vom Meer durch die Bäume rauschte. Er hatte den Drang lange ignoriert, weggesoffen. Jetzt war er frei. Unterwegs ließ er die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich, ein wenig wehmütig und froh zugleich – und steuerte auf eine gänzlich unbekannte Zukunft zu. Welche Wunder, welche Herausforderungen, welche Schrecken sie auch immer für ihn bereithalten würde. Nick freute sich unwahrscheinlich auf sie. Das Feuerzeug, durch den hochgezogenen Mantel vom Wind geschützt, erhellte kurz das dunkle, bärtige und verlebte Gesicht des Autors. Der Wind fing blauen Rauch auf und trieb ihn weit hinaus über die schwarze See.

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