Was bisher geschah

Kapitel I, Szene 1

Der Krimi-Autor und seine erste Leiche

Der alte Schriftsteller hatte den roten Faden verloren. Nick Grün kaufte sich ein Schloss irgendwo im schottischen Nirgendwo. Kalter, glatter See, in dem sich der dunkelblaue Himmel spiegelt, Ruhe, völlige Einsamkeit, viel Zeit zum Stifteverschieben, da musste es doch wieder funken mit der Kreativität. Das war die Idee. Es war eine Rechte-Gehirnhälfte-Entscheidung, so hatte er es seiner Frau erklärt. Die fand die ganze Aktion trotzdem komplett wahnsinnig. Und dann verließ sie ihn.

Seitdem lebte Nick alleine im schottischen Nirgendwo und trank schon morgens Whiskey. Sein grau-schwarzer Bart wurde mit der Zeit immer länger und ungepflegter, genauso seine grau-schwarzen Locken. Die einzigen Menschen, mit denen Nick noch Kontakt hatte, waren seine Haushälterin Eva, die alte Hexe, und Mr. McLoyd, der Besitzer des Tante-Emma-Ladens im nächsten Ort. Aber damit war es jetzt auch vorbei, als McLoyd ihn vor einigen Wochen als „kuriosen Menschen“ bezeichnet hatte. Er hatte den Audruck wohl aus der Lokalzeitung. Dort schrieben sie manchmal über Nick, wenn sie sonst nichts zu schreiben hatten. Über den kuriosen Schlossherren am See. Impertinente Arschlöcher. Seitdem schickte der Schriftsteller seine Haushälterin zum Einkaufen. Mit Menschen war er fertig.

Bis zu diesem Montagmorgen im März, als Nick im Bademantel mit seinem vollen Whiskeyglas auf der Terrasse stand und in seinen See schaute. Der See erwiderte selten seinen Blick. Diesmal schon. Die Frau, die tot im See trieb und mit leeren Augen in Richtung Schlossterrasse starrte, hatte keinen Bademantel an. Es war ein weißes Hochzeitskleid. Schleier und Rock schwebten um sie herum, als würde sie noch am Freiluftaltar stehen. Ihr rechter Ellbogen war angewinkelt. Es sah so aus, als würde sie Nick zuwinken. Der Schriftsteller stellte sein Whiskeyglas ab, drückte seine Selbstgedrehte in dem überfüllten Aschenbecher aus, stieg über die groben Steinstufen hinunter ans Ufer und watete in den See. Nick spürte das eiskalte Wasser nicht. Er hatte die Frau erkannt. Für alle anderen war sie eine bekannte Schauspielerin. Für Nick war sie Romanvorlage und unglückliche Liebe in einem. Und selbst im Tod sah sie so aus, wie er sie sich manchmal im Traum vorstellte.

Bis vielleicht auf den antiken Säbel, dessen Heft aus ihrem Bauch ragte und der eigentlich an Nicks Kamin hängen sollte. Zwischen Säbel und Leiche steckte ein Blatt Papier. Nick erkannte seine Handschrift. Er war in dem Brief damals ziemlich hässlich zu ihr gewesen. Seitdem hatte er nichts mehr von ihr gehört. Und jetzt schwamm sie tot vor seinem Traumschloss. Vielleicht war es der Schock. Vielleicht auch der morgendliche Whiskey. Nick grinste. Plötzlich fühlte er sich sehr lebendig. Zuerst würde er sich rasieren – und dann den Faden wieder aufnehmen.

Kapitel I, Szene 2

Bis auf den Grund

Nichts machte so nüchtern, wie eine Leiche an einem kalten Frühlingsmorgen. Besser als eine Kanne dampfender Espresso. Das stimmte nicht ganz. Obwohl er immer noch bis zur Brust in seinem kalten See stand, dessen Wasser seinen Körper wie tausend kleine Nadeln traktierte, durchfuhr den gescheiterten Romanautor ein noch kälterer Schauer, als er das Geräusch des Wagens bemerkte, der sich langsam die Serpentinen hinaufarbeitete. In einer halben Minute würde der unbekannte Fahrer das alte gusseiserne Tor passieren und den Vorplatz erreichen. Von dort hatte man einen wundervollen Blick auf den See – in diesem Fall: Auch auf eine tote Frau in ihrem Hochzeitskleid und einen bärtigen Mann mit seinem nassen Bademantel und Tränen in den Augen.

Nick tauchte ab, wühlte im Schlamm unter seiner toten Liebe. Stöhnend, die Welt im Allgemeinen und diesen Morgen im Besonderen verfluchend, hievte Nick einen oberschenkeldicken, angefaulten Stamm über seinen Kopf. Er schaffte es geradeso, ihn über den zierlichen Körper zu schieben und versank selbst im Morast. Mit Geschmack von Verwesung im Mund und seltsam vertrauten Lichtblitzen hinter den Augenlidern tauchte Nick Grün mit seiner Exangebeteten auf den schlammigen Grund. So nah war er ihr lange nicht gewesen. Nick tastete nach ihrem Gesicht, fühlte ihre Stirn, die kleine Nase, die schmalen Lippen. Ein Teil von ihm wollte bei ihr bleiben, den kurzen Rest seines Lebens mit der einzigen Frau verbringen, von der er immer geglaubt hatte, sie lieben zu können. Die Dunkelheit hier unten hatte etwas beruhigendes. Erinnerungsfetzen verließen Nicks ausgekühlten Körper, blubberten mit den Luftblasen an die Oberfläche.

Wie lange war es her? Der Kuss unter Sommerregen in einer Gasse Regensburgs. Ihre Lederjacken quietschten, als sie sich aneinanderpressten. Der süße Geschmack, der Geruch ihrer Haut. Der Regen spielte Jazz in den Dachrinnen. Damals war Nick für einen kurzen Moment glücklich gewesen. Dann verließ sie ihn.

Für ihre Karriere, oder weil sie ihn nie genug geliebt hatte. Damals war sie eine vielversprechende Schauspielstudentin gewesen. Und er so ziellos wie heute. Ihre Begegnung in München Jahre später, die alte, totgeglaubte Liebe, plötzlich alles wieder so wie in jener Nacht in Regensburg. Bis er sie seinem Freund, den Filmproduzenten Klaas Weniger, vorstellte.

Nick öffnete die Augen. Lichtbalken der Morgensonne fielen durch das trübe Wasser. So zornig – und so lebendig – hatte er sich lange nicht gefühlt. Das letzte Mal an einem anderen See in Oberbayern, am Fuße der Alpen. Nick wusste, wer der Schuldige war. Er musste nur noch herausfinden, wie und warum Klaas Weniger es getan hatte. Und dann würde er ihn schnappen und ihn im dunklen Wasser versenken, so wie er gerade dessen Braut versenkt hatte.

Nick stieß sich mit Füßen, die er nicht mehr spürte, vom schlammigen Untergrund ab, tauchte auf, spuckte Morast, hustete, und versuchte wieder Luft in seine verrauchten Lungen zu pressen. Der Wagen hatte den Vorplatz erreicht. Es überraschte Nick nicht, dass es ein Polizeiauto war. Nick paddelte inzwischen gut 20 Meter vom Ufer entfernt. Die ganze Leichen-Versenk-Aktion hatte ihn ein gutes Stück rausgetrieben.

Die Hintertür der Villa konnte man vom Parkplatz nicht einsehen. Bis zum Schilf tauchen, von dort das Ufer hinaufklettern, und sich durchs Gestrüpp zum Haus kämpfen, war theoretisch möglich. Nur blieb wohl kaum genug Zeit, sich umzuziehen, wieder zu Atem zu kommen und als höflich überraschter Hausherr dem Dorfpolizisten die Tür zu öffnen. Nick musste improvisieren. Es war erstaunlich, wie gut das Denken funktionierte, wenn man unter Mordverdacht stand und in 8 Grad kaltem Wasser schwamm. Nick befreite sich von den schlammigen Resten seines liebsten Morgenmantels, den er sich einst in Indien hatte schneidern lassen, und lächelte grimmig. Manchmal war es von Vorteil, ein kurioser Exzentriker zu sein.

Kapitel I, Szene 3

Der Krimi-Autor und sein erster Tatort

„Hello Officer, was kann ich für sie tun.“ Der Polizist starrte die nackte, bärtige Erscheinung an, die gerade über die Stufen aus dem See zur Terrasse hinaufgestiegen war. Grüner Schlick rutschte über Grüns Brust, versuchte sich kurz als Feigenblatt, um dann jenes Körperteil noch unpassender, tropfend zu verlassen. Der Polizist erholte sich überraschend schnell von dem Anblick.  „You are Nick Green, the Writer.“ Es klang mehr nach Feststellung als Frage.  „Yes Sir.“ Das Sir war zu dick aufgetragen. Egal, der Tanz hatte begonnen. Jetzt zählte das Spiel. Und Nick spielte gerne und gut. Zumindest früher einmal. Vor langer Zeit. All das, seine tote Ex, der Sprung in den See, dieses Gespräch – alles fühlte sich an wie die ersten wachen Momente nach einem sehr langem traumlosen Schlaf. Der Polizist lächelte. „Keep the Sir lad. Up here are no Sirs, only men.“

Nick nickte. „I am Nick Grün, Autor. Sie sind am richtigen Ort.“

„I‘ve very unpleasant news, Mr Green. Maybe you sit down.“ Der Polizist nahm mit einer theatralischen Geste seine Mütze unter den Arm und strick sich die strähnigen grau-blonden Haare glatt.

Nick blickte an sich herab und zurück zu dem Dorfpolizisten, ein Sergeant, wenn Nick die drei silbernen Streifen auf seiner schwarzen Uniform richtig deutete. „Vielleicht sollte ich mir vorher auch eine Hose anziehen.“ Jetzt lachte der Polizist, der überhaupt sympathisch wirkte. Ein Mann Mitte fünfzig, Bierbauch, typisch schottisches, puddingartiges Gesicht. Nick dachte: Die Südeuropäer verschrumpeln. Die Schotten zerlaufen. Niemand altert charmant. Der Schotte klopfte sich mit einem anerkennenden Lächeln mit dem Zeigefinger auf die Nase.

„Mornin‘ swim ha? Good thing. Like my old granny did. God bless her. Go take a shower lad, I wait. No hurry.“

Ihm Zeit zu geben, war dumm von dem Polizisten, dachte Grün, während er ins Haus schlenderte. So sollte das nicht laufen. Setz dein Gegenüber unter Druck. Lass ihn nicht aus den Augen. Der Schotte wirkte trotz seiner kleinen Schweinsäuglein nicht dumm. Was hatte ihm der anonyme Tippgeber gesagt? Da liegt eine Leiche im Privatsee des kuriosen Schriftstellers? Wohl eher nicht. Damit hätte sich der Tippgeber nur selbst verdächtig gemacht.

Nick ging betont langsam, solange er sich in Sichtweite wähnte, durchquerte den Flur, das Wohnzimmer mit offenem Kamin. Wäre der Bulle ihm bis hierher gefolgt, hätte er sicher ebenfalls den süßlichen Geruch von Blut wahrgenommen. Die rotschwarze Pfütze vor dem Kamin war nicht zu übersehen. An den Rändern eingetrocknet. Musste wohl einige Stunden her sein, dachte Nick der Forensiker, der noch nie so viel Blut gesehen hatte, schon gar nicht im eigenen Wohnzimmer. Irgendwann gestern Nacht also.

Wie ein Künstler den ersten Pinselstrich, hatte jemand mit einem spitzen, langen Gegenstand in der Mitte der Lache eine tiefe Kerbe ins Parkett geschlagen. In Nicks Augen begann es zu flimmern. Blutspritzer tänzelten auf dem schmutzigen Granit des Kamins, auf dem Sofa, an der weißen Wand. Nick setzte sich immer noch nackt auf den Sessel vor dem Kamin und starrte auf die Szene. Über der Kaminöffnung hatte jemand mit Finger und Blut einen Smiley auf die weiße Wand gemalt. Der runde rote Kopf lächelte fröhlich und streckte Nick die Zunge heraus. Darüber stand ebenfalls mit Blut und in etwas krakeligen Lettern: „Mors certa, ora incerta.“ Dahinter ein X. Das ist also dein erster Tatort, dachte Nick, während er im Flur die Dielen knarren hörte. Der Sergeant wollte sich wohl ein wenig im Haus umsehen, während Grün unter der Dusche war.

Kapitel I, Szene 4

Grüns Geständnis (1)

Als der Polizist das Wohnzimmer mit dem großen offenen Kamin erreichte, stieg ihm sofort ein markanter Geruch in die Nase. Ein Aroma, das er selbst nur zu oft genossen hatte, das ihm so vertraut war, wie der Geschmack der ersten milden Seeluft nach einem langen, kalten Winter. Zigarrenrauch. Ein Feuer knisterte im Kamin. Der Schriftsteller stand mit einer qualmenden Zigarre in der einen Hand am Kamin, und zerknüllte mit der anderen Papier, bevor es in die immer größer werdende Flamme warf. Hektisch, konzentriert, als ob es gerade die wichtigste Sache auf der Welt wäre. Was verbrannte der sonderbare Deutsche da? Was wollte er vertuschen?

Der Bulle stürzte auf Nick Grün zu. „Hören Sie sofort damit auf“, blaffte er in seinem rauen Schottisch. Der Schriftsteller wirbelte herum, stieß dabei gegen eine offene Flasche Rotwein, die jemand wenig umsichtig direkt an die Tischkante gestellt hatte. Die Flasche kippte auf den dicken Teppich spritzte über die Wand neben dem Kamin und entleerte sich gluckernd über den Stoff. Nick blickte unverwandt auf, sah den Sergeant an, als sähe er ihn zum ersten Mal. „Mit was aufhören? Feuer machen?“

„Geben Sie das her, jetzt sofort.“ Der Bulle riss Nick die verbleibenden Blätter aus der Hand. Sie waren mit einer Schreibmaschine beschrieben, am Rand hatte jemand handschriftlich Notizen hinzugefügt. Der Polizist überflog ein paar Seiten. „Das ist ja auf Deutsch“, murmelte er.

„Ah, die Auffassungsgabe eines Polizisten.“ Nick lächelte.

„Was ist das? Warum verbrennen Sie das so hastig?“

„Was glauben Sie? Das sind Teile meines Manuskripts. Und mir war kalt. Falls Sie es nicht mitbekommen haben, ich bin gerade aus einem See gestiegen. Und die Heizung scheint schon wieder ausgefallen zu sein.“

Jetzt tat Nick der Polizist fast leid. Verständnislos starrte er auf die Seiten, die lose auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet waren. Und dann ins Feuer. „Aber warum verbrennen Sie Ihr Buch?“ Nick winkte ab. „Das ist Altpapier. Eine längst überholte Fassung. Ich benutze sie als Anzünder.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, griff Nick nach weiteren Blättern zerknüllte sie, warf sie ins Feuer und schickte ein paar kleinere Holzscheite hinterher.

Da ging er hin. Der Roman seines Lebens. Begonnen als Erstlingswerk vor zehn Jahren und seitdem, wie ein Gewicht auf den Schultern, das mit jedem Tag erdrückender wurde, mit sich herum geschleppt. Das Buch, wegen dem Grün sein Leben, seine Frau, seine mäßig erfolgreichen Krimis, einfach alles hingeschmissen hatte, und in diese alte Burg mitten im Nirgendwo gezogen war. Alles nur, um endlich zu beenden, was er vor zehn Jahren angefangen hatte. Das Buch über seine große Liebe, über ihr Kennenlernen in Regensburg, ihre gemeinsame Zeit, diese wenigen Sommertage in der alten, schönsten Stadt, über die Sinnfreiheit des Lebens und der Liebe, über Karriere, Ziellosigkeit. Es sollte der große Wurf werden. Das Leben abbilden in seiner reinsten Form. Nach Regensburg arbeitete Nick Grün drei Jahre daran. Bis zu ihrem Wiedersehen an diesem einen See am Rande der Alpen. Seitdem hatte Nick das Manuskript nicht mehr angefasst. Und auch die schottische Burg und absolute Einsamkeit hatte daran nichts ändern können. Im Gegenteil. Hier hatte er wirklich Zeit für das, was er am besten konnte, ganz ohne Ablenkung. Hier konnte er ausnahmslos trinken, rauchen, und naja, trinken. Und sich mit jedem Tag weiter vom Leben verabschieden. Bis heute Morgen, als ihm seine Hauptfigur mit leeren Augen aus dem dunklen Wasser zuwinkte.

Seit ihrem Wiedersehen war weniger als eine halbe Stunde vergangen. Nick kam es vor wie Wochen. Verdünnt mit dem 1982er Mouton-Rothschild im Wert eines Kleinwagens sickerte ihr Blut durch den dicken alten Teppich zwischen Nicks Zehen, während das Feuer die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit in Rauch verwandelten. Es gab keine Abschrift, keine Word-Datei, nur dieses Manuskript. Nick packte wahllos weitere Blätter, überflog ein paar Zeilen. Bevor die sich die Blätter mit einem hübschen „Wuff“ in schwarze Asche verwandelten, konnte Nick noch einen Fetzen lesen. „Du rauchst zu viel“, sagte sie da gerade zu ihm, als würde sie neben ihm stehen. „Ja“, gestand der Roman-Nick, „ich weiß.“ Eine Träne drückte sich aus Nicks Auge, lief über seine Wange und verfing sich in Grüns ungepflegten Bart. Der Bulle bemerkte es nicht. Er starrte auf die Wand. Der blutige Smiley starrte grinsend zurück und steckte auch dem Polizisten die Zunge heraus. Verdammt.

Grüns Geständnis (2)

Kapitel 1, Szene 5

„Bloody Hell“, sagte der Polizist.
„Ja“, sagte Nick Grün.
„Was zur gottverdammten Hölle hat das zu bedeuten?“
„Ich habe keine Ahnung“, gestand Nick. „Mir ist es auch gerade erst aufgefallen.“ Auch das war nicht gelogen.
Der Bulle taxierte Nicks Gesichtsausdruck. Traurig, ratlos, offen. Wenigstens hatte er inzwischen eine Jeans an. Auch ein zerknittertes Hemd hatte Grün, seiner Schlamperei sei Dank, neben dem Sofa gefunden. Seine Haare waren, so gut es ging, zu einem Scheitel glattgestrichen. Das war das letzte, für das Nick sich Zeit genommen hatte, bevor der Polizist das Wohnzimmer erreichte. Hätte er lieber mal irgendein Bild auf den Kaminsims gestellt. Dabei hatte er es fast geschafft gehabt.

Zigarre und Feuer, um den Blutgestank zu überdecken. Den alten zusammengerollten Wandteppich in der Ecke, den er schon bei seinem Einzug heruntergerissen hatte, über der Blutlache ausbreiten. Die Rotweinflasche entkorken – ausgerechnet sein teuerster Wein – und am Tischeck postieren, damit der feuchte Teppich und die Blutspritzer nicht auffielen. Dass sich der Polizist sofort auf sein Manuskript stürzte, war ein willkommener Bonus. Dabei war es einfach das einzige Papier im Raum.

„Also stammt das nicht von Ihnen.“
„Nein Sergeant. Ich pflege generell nicht an meine Wände zu malen. Schon gar nicht mit martialisch blutroter Farbe. Und schon gar keine seltsamen lateinischen Sätze mit Horror-Smileys garniert. Ich kann nicht mal malen. Ich verabscheue es. Ein Kindheitstrauma, wenn Sie so wollen.“
„Naja, ein großer Künstler war das auch nicht.“ Der Polizist bewegte leise seine Lippen, versuchte den Schriftzug zu entziffern. „Was heißt das?“
„Das ist Latein.“
„Ich weiß, dass das Latein ist Sohn. Wissen Sie, was es bedeutet?“
Nick wusste es, ihm war aber gerade etwas anderes aufgefallen. Ein Kapitel fehlte. Ein ganzes Kapitel seines Manuskripts. Alle fertigen Versatzstücke hatte Nick zu einzelnen Heften zusammengetackert. Eins fehlte. Klar, er hatte einen ganzen Stapel verbrannt. Aber bis zu den fertigen Stücken war er noch gar nicht gekommen. Vier sollten es sein, jedes etwa mit 30 Seiten Text. Drei lagen da noch. Welches fehlte? Was stand da drin? Warum sollte jemand einen aus dem Zusammenhang gerissenen, zehn Jahre alten Text klauen? Warum nicht gleich alles? Andererseits, warum bringt jemand eine nicht unbekannte Schauspielerin um und legt sie einem sehr unbekannten schreibenden Alkoholiker in den See. Das einzige, was der Typ überdeutlich machte, war, dass er kein großer Fan von Nick Grün war und ihm ganz offensichtlich einen Mord anhängen wollte. Immer vorausgesetzt Nick hatte in der letzten Nacht nichts Dummes getan. Seit einer halben Stunde versuchte er sich krampfhaft an den gestrigen Abend zu erinnern, an die Nacht. Aber bis er heute, vor einer Stunde etwa, aufgestanden war, sich eine Zigarette gedreht und ein Glas eingeschenkt hatte, war alles weg. Nick starrte auf seine Füße, die im Rotwein-Blut standen.
Der Polizist wurde ungeduldig: „Mors certa, ora incerta. Was heißt das verdammt. Sicher – unsicher, irgendwas?“
Nick war kein Lateiner und auch sonst nicht sonderlich gebildet. Aber den Satz kannte er. Kein besonders großer Fan… Vielleicht stimmte das gar nicht. Vielleicht ein besonders großer Fan. Nick brach sein Schweigen: „Ja. Sicher und unsicher. Der Tod ist sicher, die Stunde ist unsicher. Frei übersetzt: Wir sterben alle, die Frage ist nur wann.“
„Eine Drohung.“
„Vielleicht.“ Nick winkte wage. „Ich weiß es nicht. Aber ich kenne das Zitat. Einer meiner Romanhelden benutzt es andauernd. Ein dicker Pfarrer aus Oberbayern, der sich selbst für gebildet hält.“
„Das ist ein Zitat aus einem ihrer Bücher?“
„Mehr als das. Es der Lieblingssatz des Pfarrers.“
„Wollen Sie mir weismachen, da bricht irgendein Irrer in Ihr Haus ein und zitiert auf diese abscheuliche Weise irgendeinen ihrer verkorksten Ermittler? Ein dicker deutscher Father Brown vielleicht? Sie wissen, dass das keine gewöhnliche Farbe ist, oder?“
„Ach so? Dann sollten Sie noch etwas wissen. Der Pfarrer hat mit Ihrem Braun wenig gemein. Er ist weder Ermittler noch ein sehr netter Charakter.“
„Das sind Pfarrer selten, Sohn.“
„Der noch weniger. Er bringt Leute um.“
„Warum?“
„Weil er ihre Zeit für gekommen hält.“
Der Bulle machte angewidert einen Schritt von der Wand zurück, was Nick sehr recht war, der inzwischen einen Zentimeter tief in Blut und Wein stand. Nick nutzte die Gelegenheit, seine Füße dezent am Teppichrand abzuwischen und in ein paar Mokassins zu schlüpfen – und dabei nochmals still seiner Schlamperei zu danken.
Nick lächelte den Polizisten an. „Natürlich ist es widerlich. Es ist ein Thriller. Der Pfarrer ist der Bösewicht. Er soll widerlich sein. Wollen Sie etwas trinken? Ich habe leider keinen Kaffe mehr. Und wollen Sie mir nicht endlich sagen, was Sie zu mir führt? Sie werden doch keinen anonymen Tipp bekommen haben, dass ein Fan bei mir eingebrochen ist und mit Blut über meinen Kamin gemalt hat, oder?“
Das Gesicht des Schotten war ein Gedicht. Er starrte ihn an, als hätte Grün ihm gerade die Leiche aus seinem See präsentiert. „Vielleicht trinken wir doch etwas Mr Green.“ „Was kann ich Ihnen anbieten?“ „Was haben sie denn?“ Beide Männer schauten unwillkürlich auf die Weinflasche, die sich auf den Teppich entleert hatte. „Einen klein Schluck Rotwein, denke ich. Sonst Wasser und Whisky.“ „Gern.“, sagte der Polizist. Nick lächelte und meinte auf dem Weg zur Küche endlich wieder ein wenig Boden unter den Füßen zu spüren. Dann klingelte das Telefon.

Die Identität des Anrufers überraschte Nick fast noch mehr, als die beiden bereits benutzten Whiskygläser auf seinem Küchentisch. Eines mit dem deutlichen Abdruck zierlicher roter Lippen.

Kapitel I, Szene 6

Der Anruf

„Nick Grün“, sagte Nick Grün. Stille am anderen Ende der Leitung. Dann eine bekannte Stimme. Nick hasste sie. Wenigstens klang sie nicht so aufgedreht fröhlich wie sonst.
„Nick, bist du das? Hier Klaas.“ Klang er überrascht?
„Klar, was dachtest du denn, wer dran ist. Die Polizei?“
War das ein Stocken, ein aufgeregtes Schnaufen? Oder doch nur ein krachen in der langen Leitung? „Nein, natürlich nicht. Es ist nur so lange her, alter Freund. Wieso sagst du sowas?“
„Weil die Polizei gerade bei mir ist.“
„Und da lassen die dich einfach ans Telefon gehen?“
Aha. „Wieso sollten sie das nicht tun?“
„Keine Ahnung, ich dachte nur… vergiss es. Ich hab ein paar harte Wochen hinter mir. Ist Thea bei dir?“ Und da war auch der Name, den er nie wieder hören wollte, den er selbst an diesem wohl schlimmsten und verrücktesten Vormittag seines Lebens vermieden hatte überhaupt zu denken. Thea. Seine Thea. Oder besser Klaas’ Thea. Thea, die jetzt in ihrem Brautkleid am Grund seines schottischen Sees lag.
„Nein. Warum?“
„Spiel keine Spielchen mit mir Nick. Hol sie bitte einfach ans Telefon.“
Nick starrte auf die beiden Whiskeygläser. Ein Abdruck schmaler, roter Lippen, kein Zweifel. Entweder er hatte gestern Nacht etwas Furchtbares getan, oder jemand anderes spielte hier.

„Sie ist nicht hier“, sagte er.
„Ach dann ist sie wohl nur nach Edinburgh geflogen, um sich das Land anzusehen, wie?“ Das klang schon eher nach Klaas. Immer ein wenig Spott in der Stimme.
Nick ließ sich nicht darauf ein. „Schottland soll sehr schön sein im Frühsommer. Was ist hier eigentlich los Klaas? Warum rufst du deine Frau nicht einfach an, wenn du was von ihr willst?“
„Weil sie seit drei Wochen nicht an ihr Handy geht. Ich habe sie inzwischen für vermisst erklären lassen. Die halbe Welt sucht nach ihr. Sag mal liest du keine Zeitung Mann?“
„Nein.“
„Und sie ist nicht meine Frau du Arschloch. Aber wahrscheinlich weißt du das auch längst. Wahrscheinlich steht sie gerade neben dir und schaut dir mit ihrem weltfremden Blick Löcher in die Stirn. Da passt sie hin. Zu dir und deinem verkopften Geschreibsel.“
„Versteh ich nicht. Ihr habt doch groß geheiratet. Am See, mit Bürgermeister und Herzogin und allem drum und dran vor den Altar treten, wie das Filmsternchen eben so machen.“
„Ja ich weiß. Ich war da. Nur sie nicht. Sag mal du schaust auch kein Fernsehen, habt ihr noch Ausrufer da oben? Das ging durch alle Kanäle. Und hat mich fast meinen Job gekostet.“ In Nick schrie jetzt eine Stimme. Das Flüstern war schon den ganzen Morgen da. Doch jetzt schrie sie. Es war der junge, verliebte Nick. Der, der an eine glückliche Zukunft mit seine großen Liebe geglaubt hatte: Sie ist zu dir gekommen, schrie die Stimme. Ihr hättet wieder zusammen sein können. Und du hast sie sterben lassen. Oder noch Schlimmeres. Lass dich einsperren. Du bist den Rest deines Lebens nicht wert.
Nick sprach mit einer grabesruhigen Stimme ins Telefon: „Hat dich stehen lassen, wie? So viel Schneid hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Aber hey. Mach dir nichts draus. Solche Affären sind doch reine PR für die aktuelle Produktion Klaas. Das weißt du doch.“
„Nur dass ich keine Filme mehr mache du bärtiger Spinner. Hör zu, meld dich einfach, wenn sie auftaucht. Sonst machst du dich übrigens strafbar. Schlimm genug, wenn einem die Frau abhaut. Aber, dass sie bei einem abgelebten Möchtegernschriftsteller wieder auftaucht, kann ich grade echt nicht gebrauchen.“
„Da wäre es schon besser, wenn sie tot wäre, als mit mir zusammen, wie?“
Wieder eine Pause, die alles bedeuten konnte. „Ja. Aber da kann ich mir noch bessere Lösungen vorstellen. Tot und bei dir zum Beispiel. Ahahahaha.“ Da war es wieder, dieses Lachen. Klaas lachte nicht über die Welt, sein Gegenüber, er lachte sie aus. Das Leben war ein einziger Scherz auf Kosten aller anderer. Und doch. Nick konnte sich diese Nullnummer nicht als Mörder vorstellen. Trotz allem.
„Danke, dass du angerufen hast Klaas. Ich melde mich, sobald ich etwas von ihr höre. Nur eins noch: Woher weißt du, dass Thea nach Schottland geflogen ist?“
Klaas Weniger, ehemals Filmproduzent und noch früher ein guter Freund von Nick, hatte sich lange zurückgehalten in ihrem Gespräch. Nick hatte richtig gespürt, wie er sich bei jedem Satz mehr und mehr zusammenriss. Trotzdem fraß sich der wahre Klaas langsam durch. Alter Freund, pah. „Die Po-liz-ei fahn-det nach ihr“, sagte Klaas in beißender Babysprache. „Dazu gehört, dass man die vermisste Person ü-ber-prüft, Herr Krimiautor.“ Erstaunlich, wie viel Verachtung man in zwei Worte legen kann, dachte Nick.
„Ja natürlich“, erwiderte der Herr Krimiautor ruhig. „Daran habe ich nicht gedacht.“
„Wie auch. Sauf dich nur schön weiter zusammen in deiner alten Burg. Genieß die wenige Zeit, die dir noch bleibt.“
„Ach wer weiß, vielleicht höre ich das Trinken für eine Weile auf und reise ein bisschen. Vielleicht sehen wir uns ja bald mal wieder.“
Klaas Weniger lachte, nicht mehr so glockenhell, wie Nick es von ihm gewohnt war. Sondern dunkel, fast hämisch. „Nein Nick, das glaube ich wirklich nicht. Leb wohl.“ Weniger beendete die Verbindung. Nick hörte noch ein bisschen dem britischen Störzeichen zu. Dann legte er auf, putzte die beiden Whiskygläser, und schenkte ein. Es war ein guter Whisky. Hoffentlich hatte er noch genug Zeit für das Glas, bevor sie ihn verhafteten.

Kapitel I, Szene 7

Sergeant Ulysses Kerr

Der Polizist fläzte in einem hölzernen Gartenstuhl, hielt sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die Morgensonne und seufzte blubbernd, als er Nick Grüns teuersten Whisky in seinem Mund hin und her fließen ließ. Seine Uniformjacke war offen, auch der Bierbauch, der in seinem weißen Hemd weit über die Stuhlkante ragte, schien die Sonne zu genießen. Nicke hatte gegenüber von ihm Platz genommen, und starrte über den See zu jener Stelle, wo er Thea Königs Leiche vermutete. Lange sagten beide nichts. Die Frühlingssonne hatte ein paar Vögel aufgeweckt, der See lag schwarz und Still umgeben von hellgrünen Hügeln. Ein leiser, warmer Wind ließ das Schilf flüstern.

Nick vermied es, als Erster etwas zu sagen. Was sollte er auch sagen. Der Polizist war wegen Thea hier, einem Star, den die ganze Welt suchte. Und Nick hatte sie wahrscheinlich umgebracht. Besoffen, im Affekt, aus Wahnsinn, wer weiß. Der ganze gestrige Tag glich einem einzigen schwarzen Loch in Nicks Kopf. Was sind wir mehr als die Summer unserer Erinnerungen? Nick erinnerte sich an nichts, wusste nur noch entfernt, wie er an seinem Buch arbeitete, sich dann das erste Glas Whisky einschenkte, irgendwann gegen Nachmittag – sonst nur kurze Bilder von Licht und Dunkel, Theas Gesicht, aber das sah er oft. Und was machte es schon für einen Unterschied? Verdrängen wir unsere schlimmsten Taten nicht nur zu gern? Nick meinte, darüber mal etwas gelesen zu haben. Oder er hatte es selbst geschrieben. Egal. Er musste sich wohl mit der Tatsache abfinden, dass er ein Mörder war. Noch schlimmer: Dass er den Morgen damit verbracht hatte, seinen Mord zu vertuschen.

Irgendwann öffnete der Polizist die Augen und blickte sein Gegenüber lange an, als ob er alles von Nicks stiller Grübelei mitgehört hatte. Dann sagte er: „I don’t think that you killed her, lad.“ Das war’s. Mehr kam nicht. In Nicks Gesichtszügen regte sich nichts. Musste es auch nicht. Das Adrenalin, der Unterzucker, der offensichtliche Schlafmangel – auch wenn Nick sich nicht erinnerte, so lange wach geblieben zu sein – all das setze ihn unter körpereigene Drogen. Grün hatte das Gefühl, ein paar Meter neben seinem sitzenden Selbst zu stehen und sich dabei zu beobachten, wie er sagte: „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“
Der Polizist lächelte mitleidig. „Aber sicher haben Sie das, Mr Green. Thea König, man hat mich von höchster Stelle beauftragt sie bei Ihnen zu suchen. Oder das, was von ihr übrig ist. Komisch. Meinen Auftraggebern kam es irgendwie gar nicht in den Sinn, ich könnte sie lebend hier finden.“
„Ihren Auftraggebern?“
Der Polizist winkte ab. „Ich könnte Ihnen Namen nennen. Aber was wollen Sie damit anfangen? Nein, aus der Sache kommen Sie nicht mehr raus. Obwohl Sie ja bisher schlauer reagiert haben, als ich Ihnen es zugetraut hatte. Vor allem die Nummer mit der Zigarre und dem Rotwein fand ich ziemlich gut. Da habe ich Sie unterschätzt.“
„Offenbar habe ich Sie unterschätzt.“
Der Polizist grinste wie ein Breitmaulfrosch. „Sergeant Ulysses Kerr, Mr Very Simple, but honest from the heart. Sergeant Einfach findet eine Leiche und identifiziert einen Mörder mit der Waffe in der Hand. Einen Tatort gibt’s natürlich auch. Mit so viel Blut, dass ihn selbst Sergeant Kerr nicht übersehen kann.“ Er lachte trocken auf den See hinaus, drehte seinen großen Schädel und blickte Nick aus seinen kleinen listigen Augen an. Und Nick Grün empfand zum ersten Mal seit Monaten so etwas wie Hoffnung.

Kapitel I, Szene 8

Hoffnung

Jeder hatte einen Hebel. Bei Klaas Weniger war es Macht. Bei Nick war es Stolz. Und bei Sergeant Kerr – so korrupt und verkorkst er auch sein mochte – war es eine sonderbar verdrehte Form von Integrität. Die Art und Weise, wie er wenige Momente zuvor jedes Wort ausgespuckt hatte, gab Nick Grün eine letzte verzweifelte Hoffnung. Auch wenn der Schotte keine Anstalten machte, auf seine letzte Bemerkung noch einmal einzugehen. Stattdessen stand er stöhnend auf, streifte seine Uniformjacke über und blickte über den See. „Where have you put the body, lad?“
Nick hätte jetzt seine Unschuld beteuern und den Polizisten auf Knien um Gnade und Hilfe anflehen können. Stattdessen blieb er sitzen und begann sich eine Zigarette zu drehen. „Keine Ahnung. Hat man es Ihnen nicht aufgemalt, Officer? Fundort, Tatort, Tatwaffe, Mörder? Damit der Sergeant auch nichts durcheinander bringt?“
Der Schotte zog in gespielter Entrüstung die Augenbrauen hoch. „Aber Mr Green. Wir haben uns so schön unterhalten. Und jetzt werden Sie ausfällig.“
Nick leckte den Kleberand feucht und schloss das weiße Blättchen um den Tabak. „Ich bin nur ehrlich mit Ihnen Sergeant. Und Sie haben recht. Sie sind ein kleines Licht. Ein Spielball in einem wesentlich größeren Spiel von dem Sie nicht einmal die Regeln kennen. Und ich wette, Sie haben keine Ahnung, wer Ihre so genannten Auftraggeber sind. Ich wette, Sie machen das,  weil es Ihnen von einem Vorgesetzten aufgetragen worden ist. Und ein korrupter Bulle muss eben tun, was sein korrupter Chef sagt, habe ich recht?“
Der Schotte fixierte Nick. Die kleinen Schweinsäuglein verengten sich zu Schlitzen. Seine Züge hatten jetzt nichts mehr freundliches. Das Puddinggesicht gefror zu Eis. Nick zündete sich seine Zigarette an, blies den Rauch in den strahlend blauen Himmel. Langsam formte sich eine Idee in seiner rechten Gehirnhälfte. Er durfte sie jetzt nur nicht gleich wieder verschrecken.

„Und was jetzt Mr Green? Wollen Sie an meinen Anstand appellieren? Ich hätte Sie für weniger naiv gehalten.“ Nick war aufgefallen dass der schottische Akzent in Kerrs Stimme langsam schwächer wurde. Ein Zeichen von Nervosität?
„Nein, an den dummen Polizisten in Ihnen. An Sergeant Simpel. Und natürlich an Ihren Überlebenswillen.“ Der Polizist starrte Nick Grün verständnislos an. Nick beachtete ihn gar nicht, fixierte einen Punkt im Waldrand am anderen Seeufer, zog an seiner Zigarette und redete ruhig weiter: „Ich will, dass Sie mir genau zuhören. Sie legen mir jetzt Handschellen an, führen mich in Ihr Auto. Dann gehen Sie zurück ins Haus in den ersten Stock. Den Gang ganz nach hinten. Die Tür zu meinem Schlafzimmer steht offen. Gegenüber des Bettes steht eine Kommode. Darin finden Sie meinen Reisepass und etwa 8.000 Euro und Pfund in Bar, verpackt in einem Kuvert, das zwischen der zweiten und dritten Schublade steckt. Meine Mantel samt Brieftasche liegt auf dem Bett.  Ich brauche außerdem was von meinem Skript vor dem Kamin noch übrig ist. Unten im Dorf organisieren Sie mir ein Auto und etwa sechs Wochen Zeit, um herauszufinden, was hier letzte Nacht passiert ist.“ Nick Grün ließ den Punkt auf der anderen Seeseite nicht mehr aus den Augen.

Der Polizist schnaubte verächtlich. „Sie waren wohl zu lange hier oben. Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie kommen hier nicht mehr ungeschoren davon. Jemand will Sie fallen sehen. Ganz tief. Und jetzt…“ Der Polizist stockte, weil er plötzlich einen Zigaretten- und Whisky-Atem neben seinem Ohr spürte. „Und ich sage Ihnen“, flüsterte Nick Grün, „wenn Sie nicht sofort tun was ich sage, sterben wir beide.“

Kapitel I, Szene 9

Flucht

Die Blonde im Brautkleid streckte Nick ihre zarte blasse Hand entgegen. Sie öffnete den Mund. Als wollte sie irgendetwas sagen. Doch heraus kamen nur stille Luftblasen. Ihr Gesicht verkrampfte sich. Die Hand reckte sich nochmal in Nicks Richtung. Und nochmal. Mit weit aufgerissenen Augen. Er blieb stehen wie zu Eis erstarrt. Eine unsichtbare Kraft zerrte das wunderschöne Mädchen in die Tiefe. Ihr hübsches Gesicht verschwamm mit dem dunklen, blutgetränkten Wasser. Übrig blieb Nicks Spiegelbild auf der Wasseroberfläche im Mondschein. Nur seine Augen waren anders. Zwei dunkle Höhlen so schwarz wie eine Sturmnacht im schottischen Hochland. Das Spiegelbild sagte: „Mors certa, ora incerta. Erinnere dich.“
„An was soll ich mich erinnern?“
„An alles du Idiot.“

DSC_1042_1-9Nick Grün erwachte mit dem Geschmack von Blut und Aschenbecher in seinem ausgetrockneten Mund. Und da war noch etwas. Wenige Menschen kommen in den Genuss, das Aroma von hunderten Hinterteilen zu riechen, die ihren Angstschweiß abgesondert hatten. Eine Mischung von rohem Fleisch in der Sonne, Moder, sehr altem Käse und Durchfall. Quasi das Destillat von Furcht. Nick durfte es sogar schmecken. Er lag auf der Seite mit offenem Mund auf der Rückbank eines Polizeiautos. Sein erster Gedanke: Wenigstens ist es ein Lederbezug. Sein zweiter: Wo bin ich. Letzteren verwarf Nick gleich wieder, weil er Klischees hasste. Außerdem konnte er sich selbst zusammenreimen, wo er war. Während ein leises Sopransaxophon „Satin Doll“ aus dem Autoradio säuselte, kamen die Erinnerungen zurück.

Nick war noch damit beschäftigt gewesen, den Drang zu unterdrücken, sich hinter die kleine Bruchsteinmauer vor der Terrasse zu werfen. Sergeant Ulysses Kerr reagierte schneller. Mit einer fließenden Bewegung war er Nicks Blick zur anderen Seeseite gefolgt, entdeckte ebenfalls den Heckenschützen, zog seinen Schlagstock und drosch ihn über Nicks Schläfe. Aha, daher auch der pochende Schmerz. Und dann hatte ihm der Bulle wohl Handschellen angelegt und ihn in sein Auto geschleift. Ja, so musste es gewesen sein und es erklärte auch die anderen Schmerzen und dass er seinen linken Arm nicht mehr spürte. Und natürlich, dass er mit Handschellen gefesselt war. Nick hätte sich selbst ob seiner genialen Logik auf die Schultern geklopft, wären da, nun, wären da eben nicht die Handschellen gewesen.

Der Saxophonist war richtig gut. „Soviel Musikgeschmack hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut“, wollte Nick Grün sagen. Heraus kam: „’schmack zuwsfl.“
„Ah, Sie sind endlich wach“, begrüßte ihn Kerr, als hätte er einen alten Freund nach langer Zeit wiedergetroffen.
„Satin Doll. Gut. Hätte nicht gedacht, dass Sie sowas hören.“, murmelte Grün.
„Und ich hätte gedacht, dass Sie ein viel größeres arrogantes Arschloch wären.“
„Sehen Sie, wir lernen uns langsam kennen.“
Der Bulle lachte dreckig. „Besser als Sie denken.“ In Nicks whiskygetränktem Kopf formten sich unwillkürlich Bilder von einem bewusstlosen Nick und einem dicken Schotten, dessen sexuelle Ausrichtung alles andere als klar war.
„You snarr“, lachte der Schotte. „Epicly.“
„Das ist nicht wahr. Ich habe nie geschnarcht.“
„Ich musste das Radio laut drehen, weil ich das Sägen nicht mehr ertragen hab.“
„Was erwarten Sie, wenn Sie jemandem halb den Kopf zerdeppern.“
„Sorry lad. War nötig. Wie Sie sagten, um unser beider Willen.“

Und was werden Sie mit mir machen? Die Frage hing in der Luft und Nick Grün ließ sie hängen, weil er, wie gesagt, Klischees hasste. Stattdessen beobachtete er die Landschaft, wie sie an dem schmutzigen Autofenster vorbeizog. Sie befanden sich auf einer Landstraße in der Abendsonne. Nick musste also einige Stunden weggewesen sein. Ein paar malerische Straßendörfchen zogen an ihnen vorbei. Kleine Höfe, umgeben von saftig-grünen Wiesen, rote Telefonzellen – und überall hingen Plakate, viele schon abgerissen, und zerfetzt. „Vote for Brexit now“ konnte Nick noch entziffern. Wer zum Teufel war Brexit? Der Schotte schien wieder Nicks Gedanken zu lesen. „Eine Schande, oder? Wir haben für die EU gestimmt.“ Die EU? Konnte man jetzt darüber abstimmen? Klang irgendwie alles ziemlich abstrakt für Nick. Wie von einem langen Schlaf in einer anderen Welt aufzuwachen. „Ja, ja“, sagte er, „eine Schande.“
„Sie wissen doch, um was es hier geht.“
„Ja, ähm, um einen Brexit.“
„Sie kamen da oben wirklich nicht oft raus, oder?“
„Nein.“ Und dann überwand er sich doch. „Was werden Sie jetzt mit mir machen?“
„Oh, gar nichts. Aber nachdem Sie mich darum gebeten haben, von Ihrer Besorgnis erzählt haben, Ihr Leben könnte in Gefahr sein, werde ich mich der Sache annehmen.“
„Was?“
„Na Ihr Stalkerproblem. Das Blut an der Wand. Kümmere mich drum. Und Sie verlassen für eine Weile die Gegend, bis ich den Irren habe.“ Der Polizist lächelte Nick über den Rückspiegel an. „Sergeant Einfach zur Stelle. Die Handschellen nehme ich Ihnen gleich ab. Wollte Sie nur nicht aufwecken, Sie haben so schön geschnarcht“
Wahrscheinlich war es der Theas Tod. Sonst war Nick nicht so nah am Wasser gebaut. Wegen seiner gefesselten Hände konnte er sich die Tränen nicht einmal aus dem Gesicht wischen. Er schämte sich ihrer nicht. „Danke“, hauchte er. Wie Dampf verließ Nick die unerträgliche Anspannung. Die ganze Schönheit von Freiheit können wohl nur Menschen in Handschellen erfassen. Der Schriftsteller fühlte sich leicht, glaubte einfach abheben zu können und übers schottische Hochland davonfliegen. Aber seine Reise fing jetzt erst an. Nick Grün lehnte den Kopf an die Autotür, genoss den wirklich guten Jazz und die Landschaft im Abendlicht und war einfach froh, unterwegs zu sein. Jetzt würde er seine Suche beginnen. Er würde Antworten finden. Sie hatten Sergeant Ulysses Kerr unterschätzt. Aber vor allem hatten sie – wer auch immer sie waren – Nick Grün unterschätzt, der früher einmal weit mehr gewesen war, als mittelmäßiger Krimiautor und Trinker.

Kapitel I, Szene 10

Auf der anderen Seite des Sees

Klaas Weniger putzte seine randlose Brille. Ruhig, gründlich, als würde diese Brille und das seidene Einstecktuch seines Anzugs, mit dem er sie putzte, gerade die Welt bedeuten. Als gäbe es nichts wichtigeres. Vor allem nicht der Mann, der am anderen Ende seines Schreibtischs stand und schwitzte. Der wiederum versuchte sich gerade verzweifelt nicht daran zu erinnern, was nochmal mit dem Boten passierte, der schlechte Nachrichten für den König hatte. Die Pause war unerträglich für den Mann. Irgendwann wiederholte er, was er schon einmal gesagt hatte:

13445618_1042433552512875_3479764924801835815_n„Ich kann mir das alles nicht erklären. So hätte das nicht ablaufen sollen. Mein Kontakt hat sich genau an die Anweisungen gehalten.“
Klaas Weniger hatte noch ein Staubkorn entdeckt und pustete behutsam. „Genau an die Anweisungen gehalten“, murmelte er gedankenverloren, legte seine Brille behutsam beiseite und das Seidentuch wieder zusammen. Dabei sezierte er nochmal laut jedes Wort: „Ge-nau an die An-wei-sun-gen ge-hal-ten.“
„Und wir wissen ja noch gar nicht, was wirklich passiert ist. Vielleicht hat sie sich abgesetzt.“
Weniger setzte seine Brille auf und blickte sein Gegenüber an, als hätte er ihn zum ersten Mal bemerkt. „Dann ist ja alles in Ordnung, Huber.“
Huber zuckte kurz zusammen. Einerseits, weil er zu der Sorte Mensch gehörte, die das Herr vor ihrem Namen genossen – und die es normalerweise auch von in ihrem Umfeld mit besonderer Ehrfurcht hörten – und andererseits, wegen der Augen. In Wenigers stahlblauen Augen schien gerade das Feuer der Hölle zu lodern. Sein freudloses Lächeln unterstützte den Eindruck nur. Huber schauderte und lächelte zugleich. „Ja das sag ich doch auch Klaas. Das wird sich schon alles finden. Ha ha.“
„Ha ha“, machte Klaas Weniger. Sein Lächeln verschwand so plötzlich wie ein Pistolenschuss und als würde er ihm gerade den Wetterbericht vorlesen sagte er: „Sie ist tot, Huber.“
„Das ist eine sehr unglückliche Entwicklung“, sagte Huber. „Davon weiß ich nichts.“
„Meine Frau ist tot und du sagst mir, dass das eine sehr unglückliche Entwicklung ist.“
„Nein, nein natürlich nicht. Ich wusste nicht. Woher?…, ich meine, ich kann mir nicht vorstellen… das tut mir alles so leid.“
„Schon gut Huber. Im Moment weist nichts daraufhin, dass es deine Schuld ist.“ Und während Huber noch überlegte, wie lange so ein Moment bei Klaas Weniger gewöhnlich dauerte, sprang dieser auf und klopfte ihm auf die Schulter. „Solche Dinge passieren. Vielleicht wird ja auch was Gutes draus.“
„Ja?“ Huber sah Licht am Ende des Tunnels.
„Ja. Und Nick Grün sitzt im Kittchen. Zumindest das ist nach Plan gelaufen.“
Das Ende des Tunnels stand in Flammen. „Nun ja“, schwitzte Huber heraus. „Genaugenommen sitzt dieser Grün nirgendwo.“
„Was?“
„Ich kann mir das auch nicht erklären. Ich meine, wir wissen, dass man ihn abgeführt hat. In Handschellen und alles. Aber es gibt keine Eintragung über eine Festnahme. Auch nicht über einen Mordfall. Das einzige, von dem mein Kontakt weiß, ist eine Ermittlung wegen Hausfriedensbruch und Vandalismus…“ Wenigers Gesichtsausdruck ließ Huber verstummen. Wenn er vorher die Feuer der Hölle in dessen Augen lodern gesehen hatte, war jetzt das Armageddon hereingebrochen. Aber es waren nur seine Augen. Sein Gesicht schien freundlich entspannt. Und das machte alles noch viel schlimmer. Glücklicherweise schien Weniger genug von Huber zu haben, denn er wandte sich ab und trat ans Fenster.

Und da war er und glitzerte unschuldig in der Mittagssonne. Ahnungslos lag er da, klein aus Wenigers Perspektive. Und – das musste selbst Weniger zugeben – wunderschön anzusehen. Dahinter die saftig grünen Berge, und irgendwo dazwischen das Volk in seinen possierlichen Behausungen. Wenigers Haus hatte ein Vermögen gekostet, und doch war es eher unscheinbar, keine Villa, ein ganz normales Haus, fast eine Hütte. Aber der Blick entschädigte jeden Tag für die Summe. Es war der Blick eines Siegers. Und Klaas Weniger siegte gerne. Irgendein Tiroler hatte mal in einem Interview behauptet, dass das Kapital immer die erhabenen Plätze suchte, ein Platz an der Sonne mit majestätischem Blick. Das stimmte zum Teil. Aber es war nach Wenigers Meinung nicht nur der Blick als solcher. Es war das Wissen, dass einem alles, was man sah, gehörte. Noch durfte er es nicht Reich nennen. Nur Besitz. Die meisten wussten nichts davon. Holdings, Trusts, Fonds – irgendwelche Firmen mit sonderbaren Namen wie Tegernsee Eigentum GmbH. Doch inzwischen gehörte diesem unauffälligen Mann mit seiner randlosen Brille das halbe Ufer, das halbe Tal, um genauer zu sein. Und sie alle mussten vor ihm kriechen.

Auch dieser Huber, eigentlich ein hoher Regierungsbeamter Bayerns.  Aber das war längst nicht genug. Bald, sehr bald, würden sehr viele mehr vor ihm kriechen müssen. Ich brauche ein Haus mit einer weiteren Aussicht, dachte er, als sein Blick auf die Journalisten in seinem Innenhof fiel. Sogar zwei Übertragungswagen waren da. Andere angehende Politiker mussten sich für ein wenig Aufmerksamkeit prostituieren. Weniger hatte die schmierige Bande nicht einmal angerufen. Nur die passende Pressemitteilung fehlte. Nun, sie lag fertig getippt auf seinem Schreibtisch. Nur stimmte sie nicht mit den Ereignissen überein. Ein Fehler. Und Weniger hasste Fehler mehr als alles andere. Aber dennoch ein Sieg. Weniger summte ein Lied, dass er sehr lange nicht gesummt hatte, bis ihn ein Räuspern unterbrach.

Dieser Huber hatte wirklich kein Taktgefühlt. Wusste nicht einmal, wann man sich besser still hinausschlich und seine Arbeit machte. „Sie sind ja noch da Huber.“ Huber bemerkte das „Sie“ und wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, außer, dass es sicher nicht gut war.
„Ich werde sofort in London anrufen und von den neusten Ereignissen berichten. Dieser Grün muss zweifelsohne für seine Taten bezahlen.“
„Zweifelsohne“, es klang nicht wie Nachäffen und doch war es genauso gemeint. „Tun Sie das Huber. Danke. Ich will Sie nicht länger festhalten.“
„Machs gut Klaas, äh, Herr Klaas, äh…“ Huber murmelte ein „‚Tschuldigung“ und flüchtete. Er hatte Klaas Weniger gerade einen fast perfekten Moment verdorben. Davon wusste der Mann natürlich nichts, weil er keinen Stil hatte. Und Weniger hasste Menschen ohne Stil fast so sehr wie Fehler. Weniger seufzte, setzte ein durch und durch freundliches Lächeln – gemischt mit einem ehrlich traurigen Blick – auf und trat vor die Presse.

Während Klaas Weniger seine politische Karriere startete, saß Nick Grün in einem Fischerboot vor seinem Notizbuch und versuchte sich zu erinnern. An was? An alles.

Kapitel I, Szene 11

Überfahrt

Wellen schlugen gegen das Boot. Der Kanal schimmerte gespenstisch schön im Mondlicht. Nick Grün fröstelte in seinem Sommermantel. Und doch zog er es vor, draußen zu bleiben. Es war gar nicht so sehr der Gestank von altem Fisch, der ihn aus der engen Kajüte vertrieben hatte, mehr die stummen Blicke der Mannschaft. Sie wirkten nicht wirklich anklagend, auch nicht neugierig, eher ungläubig, teils, so meinte Grün, furchterfüllt.

DSC_1042_1-6Klar, es war sicher nicht die normalste Art, von Britannien nach Frankreich überzusetzen, aber das war den Jungs doch sicher auch klar, immerhin hatten sie einen dicken Packen Scheine dafür bekommen – und das nachdrückliche Wort seines neuen Freundes, des Polizisten, dass hier alles schon seine Richtigkeit hatte. Aber das allein schien nicht das Problem zu sein. Aus irgendeinem Grund hielt es die Crew für sehr ungewöhnlich, ja, den Blicken nach zu urteilen, für völlig verrückt, dass ein dunkler Typ mit schwarzem Bart ohne großes Aufsehen von Großbritannien auf den Kontinent übersetzen wollte. Wohin er wolle, hatte ihn einer gefragt. Nach Hause, antwortete Nick wahrheitsgemäß. Die Antwort wurde mit einem ungläubigen Lächeln und noch mehr Blicken gewürdigt. Als einer wissen wollte, was er von Allah halte, wurde es Nick Grün zu bunt. Seitdem kauerte er auf einem Haufen nautischem Zeugs im Windschatten des Führerhauses, starrte über die schönen kalten Wellen und fröstelte. Hier bekam die Bezeichnung „kalter Entzug“ eine ganz neue Bedeutung. In Nick Grüns von jahrelangem Alkoholmissbrauch gemarterten Hirn kristallisierte sich der Eindruck heraus, dass ihm ein paar wichtige Informationen über diese Welt fehlten. Als lebten plötzlich alle nach einem Code, den Nick nicht mehr verstand. Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war, sich zu erinnern.

Fetzen, Szenen, Personen aus vergangenen Zeiten tauchten aus dem schwarzen Wasser auf, blieben über der Reling hängen, manche flüsterten ihm etwas zu, nur um dann wieder im endlosen Nichts zu versinken. In seinem Alkohol-Entzugs-Delirium sah Nick Regensburg und Thea. Beide ewig schön und unnachgiebig. Ihre langen Gespräche in zahllosen Kneipen und am Ufer der Donau, die mit der steigenden Anzahl von leeren Weinflaschen, die in dem braunen Strom verschwanden, immer metaphysischer wurden. Theas Theorie über die Liebe zum Beispiel. Wie sie Nick erklärte, warum sie problemlos für einige Tage furchtbar in ihn verliebt sein konnte, trotz Freund in Berlin und Liebhaber in München. Nick hatte die Geschichte schon damals als eloquente Lüge entlarvt und es war ihm egal. Nur dass der Liebhaber damals schon Klaas Weniger hieß, wusste Nick zu jenem Zeitpunkt nicht. Klaas Weniger. Nick hatte ihn als intelligenten, vielleicht etwas hinterhältigen, aber harmlosen Zeitgenossen kennengelernt. Jemand, mit dem man wunderbar um die Häuser ziehen konnte und auf den man sich besser nicht verließ, wenn es ernst wurde. Nick gefiel die Welt, in die ihn Klaas entführte. Die Münchner Schickeria, die Welt der Stars und Sternchen. Und Thea gefiel, was Klaas für sie in dieser Welt tun konnte. Der Rest war Geschichte. Nick blieb in seinem kleinen Regensburg, überließ Thea und Klaas ihrer Welt, und fing an, Provinzkrimis zu schreiben.

Und jetzt suchten sie ihn beide heim. Klaas mit einem sonderbaren Anruf und Thea tot in seinem See. Und Nick Grün war plötzlich ein Flüchtling. Das alles musste doch irgendwie alles zusammenhängen. Soviel war selbst Nick klar.
Mal sehen. Krimis schreiben und selbst einen Kriminalfall zu lösen – das konnte doch nicht so verschieden sein. Der Autor war sich inzwischen fast sicher, dass er Thea nicht selbst getötet hatte. Es war einfach nicht logisch. Selbst unter Drogeneinfluss, selbst im Streit. Die traurige Wahrheit war: Thea hatte ihn damals so sehr verletzt, dass von ihr nichts mehr hätte kommen können, was ihn derart in Rage versetzt hätte.
Also wollte ihn jemand hinhängen. Klaas. Aber warum nur? Und was sollte der seltsame Schriftzug? Der passte so gar nicht zum Rest. Was war das für eine Geschichte? Nick brachte seine große Liebe am Kamin um, aus Wut, Eifersucht, Verzweiflung, was auch immer, zerrte sie – ohne einen Tropfen Blut zu verlieren, denn sonst gab es keine Spuren im Haus – in den See und ließ sie dort schwimmen. Dann kehrte er zu jener Blutlache zurück, schrieb einen blödsinnigen lateinischen Satz aus seinen Büchern mit Theas Blut an die Wand, setzte einen Smiley darunter – und dann legte er sich hin. Die Geschichte ergab keinen Sinn. Hätte Nick mit solchen Plots seine Krimis geschrieben, er würde heute wohl eher in einer schottischen Sozialwohnung mit Asphaltblick  wohnen. Wenn ihm jemand Thea Königs Tod anhängen wollte, hatte er sich entweder in letzter Minute sehr dumm angestellt – oder etwas war komplett schief gelaufen.

Nick wünschte sich etwas zu trinken. So kommst du nicht weiter. Mach’s wie in deinen Krimis, konzentriere dich auf die einfachen Wahrheiten. Nick holte sein schwarzes, abgenutztes Moleskine-Notizbuch hervor und schrieb in großen Druckbuchstaben „Thea“ in die Mitte einer leeren Seite. Dann malte er einen Kreis darum. Dasselbe mit „Klaas“. Dann zögerte er und setzte seinen Eigenen Namen dazwischen. Schließlich fügte er „Sergeant Kerr“ etwas kleiner und abseits hinzu. Konnte er ihm vertrauen? Sie hatten sich fast freundschaftlich verabschiedet, als ihn Ulysses Kerr an dieser verlassenen, finsteren Bucht absetzte. Ein Lächeln, ein kurzer Druck am Oberarm. In letzter Sekunde ließ Kerr noch ein Prepaid-Handy in Nicks Manteltasche gleiten, das er kurz zuvor in einer Raststätte gekauft hatte. „Meine Nummer ist eingespeichert. Benutzen Sie es nur dafür. Keine SMS, nur Anrufe, klar?“
„Klar“, antwortete Nick, auch wenn ihm so gar nichts klar war. Schon gar nicht, was Sergeant Kerr anging. Hatte er mit seinem Monolog über Ehre den alten dicken korrupten Sheriff wirklich erreicht? Eins war tatsächlich klar: Mit Nicks Flucht machte Kerr sich keine Freunde und versagte sich die Festnahme seines Lebens. Deshalb und weil Nick ihn von Anfang an gemocht hatte, vertraute er dem Puddinggesicht. Und weil er kaum eine andere Wahl hatte.

Nick Grün, Thea König, Klaas Weniger – was verband die drei miteinander? Eine Liebesgeschichte, ziemlich unglücklich was Nick anging. Und sonst? Ihre gemeinsame Zeit in Regensburg, München und am Tegernsee. Und ja, Nicks Roman, der von dieser Zeit handelte. Das Buch. Nachdem es einen eigenen Platz in Nicks Notizbuch erhalten hatte, kramte Nick nach dessen Resten in seiner Umhängetasche. Ein Teil war in Flammen aufgegangen. Dann waren da die vor Jahren geschriebenen und feinsäuberlich zusammengetackerten Versatzstücke – von denen eins seit letzter Nacht fehlte. Sie waren nicht getitelt, hatten auch keine Reihenfolge. Mehrere Hefte beschrieben Szenen mit Thea, ein Besuch in Regensburg, ein Nachmittag im Café. Ein Spaziergang an der Donau. Die schienen vollständig. Die anderen enthielten lose Szenen, alle abgeschrieben aus seinen Tagebüchern. Kneipengespräche, Erlebnisse in Regensburg, erfundene Geschichten, alles, was Grün für verwertbar gehalten hatte. Die Szenen waren lose nach Jahreszahlen geordnet, teils mit Datum versehen. Es fehlten die Jahre 2010 und 2011. Die Zeit mit Klaas. Kurz bevor Thea Nick verlassen hatte. Offenbar Szenen, die es Wert waren, dafür zu morden.

Nick Grün konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so nüchtern gefühlt hatte. Er tastete seine Manteltaschen ab – tatsächlich – Sergeant Kerr war so umsichtig gewesen und hatte ihm seinen Tabak eingesteckt. Mit dem Glücksgefühl, wie es nur ein Raucher empfinden kann, drehte er sich eine Zigarette. Die Leute meinten immer, ein Kater wäre etwas Schreckliches. Aber das stimmte nicht. Er gehörte zum Leben eines Trinkers wie der Rausch und war manchmal sogar besser. Ein unglaubliches Gefühl der Klarheit. Die Welt braust ungefiltert auf einen ein. Gedanken so scharf, dass man aufpassen muss, sich nicht daran zu schneiden.

Nick ließ den Satz immer wieder über die Wellen hüpfen, fast genüsslich: Szenen, die es Wert waren zu morden. Nick lächelte. Er hätte nie gedacht, dass er als Schreiber so gut war. Aber so musste es wohl sein: Für irgendetwas, das zwischen Januar 2010 und August 2011 stattgefunden hatte, die drei Protagonisten unfreiwillig miteinander verband und das Nick aufgeschrieben hatte, musste Thea König sterben und Nick lebenslang hinter Gittern.

Der Krimiautor schob sich seine Selbstgedrehte zwischen die Lippen und blickte ins schwarze Nichts hinter dem Horizont. Wieder empfand er das seltsam befreiende Gefühl, unterwegs zu sein. Erst jetzt wurde Nick Grün klar, wie sehr es ihn schon lange von diesem schottischen See hinaus in die Welt gezogen hatte. Dieses Kitzeln in der Magengrube, bei jedem Windstoß der vom Meer durch die Bäume rauschte. Er hatte den Drang lange ignoriert, weggesoffen. Jetzt war er frei. Unterwegs ließ er die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich, ein wenig wehmütig und froh zugleich – und steuerte auf eine gänzlich unbekannte Zukunft zu. Welche Wunder, welche Herausforderungen, welche Schrecken sie auch immer für ihn bereithalten würde. Nick war für einen kurzen Moment auf diesem Boot glücklich. Das Feuerzeug, durch den hochgezogenen Mantel vom Wind geschützt, erhellte kurz das dunkle, bärtige und verlebte Gesicht des Autors. Der Wind fing blauen Rauch auf und trieb ihn weit hinaus über die schwarze See.

Kapitel I, Szene 12

Frühstück mit Klaas – und Thea

Mit einem leisen Plopp landete der halbgekaute Bissen Croissant in Nicks Kaffeetasse. Mit offenem Mund starrte der Krimiautor auf den Fernseher eines Cafés irgendwo an der Bretagneküste. Die Nachrichtensprecherin kündigte den spektakulärsten Vermisstenfall an, den Europa seit dem Tod von Lady Di erlebt hatte. Dann erschien Klaas Weniger. Sein graues Haar wehte ein wenig im Föhnwind, hinter ihm der blaue unschuldige See und die lieblich-grünen Berge. Klaas Weniger richtete einen besorgten Blick auf die unzähligen Journalisten. Er räusperte sich. Zig Mikrophone rückten näher. Klaas wich zurück, schien kurz eingeschüchtert, fasste sich wieder und begann zu reden. Konsterniert, sichtlich berührt, schilderte Weniger die Suche nach seiner besseren Hälfte, und was diese Frau, seine Schönheit, wie er sagte, für ihn bedeutet hatte. Es klang wie ein Nachruf.

Nick lauschte mit offenem Mund. Eine rührende Geschichte. Ganz zweifellos. Klaas erzählte, wie er am Altar wartete und wartete und sie nicht kam. Wie er die Polizei verständigte, die von alledem nichts wissen wollte und später nichts wusste. Doch Klaas Weniger habe nicht aufgegeben. Niemals. Aus ganz Deutschland habe er Unterstützung erfahren. Wie schwer es gewesen sei, die Suche auf ganz Europa auszuweiten. Wie schlimm die Kleinstaaterei Europas und das Bürokratiemonstrum in Brüssel die Suche nach seiner unschuldigen Liebe behinderte. Inzwischen aber – dank Wenigers einflussreicher Freunde, die wenigen, die die Wichtigkeit schnellen Handelns über die Grenzen Deutschlands hinaus verstanden – inzwischen also, suche ganz Europa nach seinem Star, nach seiner Schönheit. Thea König. Bei ihrem Namen brach er kurz ab, drehte sich um und blickte über den See. Als er sich wieder den Kameras zuwendete, hatte er Tränen in den Augen.

Mit brüchiger Stimme erinnerte sich Klaas Weniger daran, wie sich Thea und er zum ersten Mal gesehen hatten. Liebe auf den ersten Blick, natürlich. Nick kannte die Szene, die Klaas da schilderte. Sehr gut sogar. Er war dabei gewesen. Klaas allerdings nicht. Der hatte Thea König erst Jahre später kennengelernt – als Nick die beiden einander vorstellte. Was Klaas da den Journalisten erzählte, war die Geschichte, wie Thea und Nick sich zum ersten Mal trafen. Nick hätte sie nicht besser erzählen können.

In einem Seminarhaus am Tegernsee inmitten dieser lieblichen Berge, ganz in der Nähe des Vorhofs, auf dem Klaas gerade stand. Beide Teilnehmer eines Seminars, beide arrogant auf ihre Weise, beide noch so jung. Wie sie die ganze Woche kein Wort miteinander wechseln, bis sie schließlich – am letzten Tag – per Zufall in ein Team gewählt werden. Wie sie sich dann nicht mehr von der Seite weichen. Liebe auf den ersten Blick. Eine dumme Plattitüde für Etwas, das Nick nur einmal in seinem Leben empfunden hatte, an jenem Föhntag im Oktober am See.

Klaas erzählte nichts von den langen Gesprächen, draußen in der Bar, in die sie sich davongestohlen hatten. Hoch über dem See mit Blick über die Egerner Bucht. Die warmen Windstöße im Spätherbst, die das junge Paar forttragen und alles um sie herum auslöschen, bis auf ihr zartes Gesicht, ihre helle Stimme, der Nick mit jedem Wort mehr verfällt. Ihr erster Kuss auf dem Heimweg, mehr ein Hauch, der sich im warmen Sturm verliert. Was hatte sie damals noch zu ihm gesagt?

Unter einem Tränenschleier sah Nick Klaas‘ kalte blaue Augen, die ihn durch den Fernseher hindurch fixieren zu schienen, als er sagte: „Ich werde nie vergessen, was sie an jenem Abend zu mir gesagt hat. Sie blickte mir fest in die Augen und sagte…“

„Wir sterben alle, die frage ist nur wann. Aber hier mit dir lebe ich ewig“, flüsterte Nick. Kaffee tröpfelte aus der umgekippten Tasse über Nicks Mantel. Nick ballte die Fäuste. Verzweifelte Tränen verfingen sich in seinem Bart. Nick konnte nicht schreien, nichts werfen, sich nicht einmal bewegen. Schweigend und zitternd saß er an dem Tresen und starrte aus geröteten Augen auf den Bildschirm.

Ein kleiner verlebter Mann weint bitterlich und allein in einem Café.

Ein kurzes, freudloses Lächeln zuckt in Klaas Wenigers Gesicht, die Welt klebt an seinen Lippen, als er zum nächsten Schlag ausholt: „Ich habe sie heute eingeladen, um Ihnen mitzuteilen, dass wir jetzt traurige Gewissheit haben – und einen Verdächtigen…“

Kapitel I, Szene 14

Jetzt siehst du mich ganz klein

Die Pressekonferenz wird von einem aufgeregten Nachrichtensprecher abgelöst, der noch einmal wiederholt, was Klaas Weniger wenige  Sekunden vorher in die Kamera gesagt hat. Dann kommt eine kurze Unterbrechung – für den Wetterbericht. Es soll Regen geben. Nick Grün wirft einen Fünf-Euro-Schein auf den Tresen, taumelt aus dem Café und wandert ziellos über die Strandpromenade der französischen Kleinstadt. Er bleibt an einer Bank stehen, kramt in seiner Manteltasche nach Tabak, dreht, kramt nach einem Feuerzeug, zündet zitternd an, nimmt einen Zug und setzt sich hin. Die Stimme von Klaas Weniger aus dem Fernseher hallt in seinem Kopf wieder.

„…Thea König wurde uns genommen. Die Heldin des deutschen Films und meine Verlobte ist tot. Nach meinen Informationen wurde sie zuletzt in Schottland gesehen. Dort besuchte sie einen ehemaligen Freund. Nick Grün, eine gescheiterte Figur aus ihrem früheren Leben, wird deshalb von den Behörden direkt mit dem Mord an Thea König in Verbindung gebracht…“

Die gescheiterte Figur dreht sich eine zweite Zigarette, raucht, starrt über den rauen Atlantik. Was hatte Thea einmal zu ihm gesagt? „Jetzt siehst du mich ganz klein.“ Damals war sie vor Klaas geflüchtet und Tränen überströmt vor Nicks Tür gestanden. Mit verlaufener Schminke, geröteten Augen, schluchzend. Es brach ihm damals das Herz, als er sah, wie viel Macht Klaas Weniger über sie hatte. „Jetzt siehst du mich ganz klein.“ Tja Thea,  jetzt siehst du mich ganz klein.

Wie sollte er, diese heulende Vogelscheuche, dieser Schatten seiner selbst, jemals wieder aus diesem Schlamassel rauskommen? Nick würde selbst jederzeit zugeben, dass er nicht sonderlich intelligent ist. Dabei hat er nur einen Packen Geldscheine, der schnell kleiner werden wird. Wieder rinnen Tränen über sein Gesicht, weniger der Trauer, mehr der Verzweiflung und der Angst. Was für ein Held.

Das Fernsehen zeigte auch ein Foto. Nick im Morgenmantel mit einer Zigarette in der einen und einem Glas Whisky in der anderen Hand vor seinem Schloss. Das Bild muss recht neu sein. Wie lange haben die ihn schon beobachtet? Der Sprecher verkündete dazu mit hysterischem Unterton. „Die örtlichen Behörden ermitteln beflissen.“ Offenbar, so weitere Enthüllungen einer sicheren Quelle des Senders, pflegte Nick rege Kontakte zu gewaltbereiten Terroristen des linken Spektrums.

Nick verwettete seinen ungeschriebenen Roman darauf, dass die Behörden erst übers Fernsehen von dem neuen, Schauspielerinnen meuchelnden Terroristen in Schottland erfahren hatten. Nick hätte schon interessiert, woher Klaas so genau wusste, dass Theas Leiche in seinem See lag. Die Journalisten wahrscheinlich auch. Aber Klaas ließ keine Fragen zu. Dafür krönte er seine Rede mit einem Oberhammer: Klaas Weniger wird Politiker.

Dieses kleine Aas benutzt Theas Tod für den Beginn seiner politischen Karriere. Klar, hübsch eingeordnet: „…einen traurigeren Anlass für diesen Schritt könnte es nicht geben…“, bla bla bla, „…ich will dem einer so großen Frau – so sinnlos er gewesen sein mag – wenigstens nachträglich einen Sinn geben…“ Und so weiter. Und der geschulte Filmproduzent weiß auch, wie man einen Cliffhanger anständig aufhängt. Für welche Partei und welches Amt, kann er noch nicht sagen. Erst müsse er sich mit Gleichgesinnten in Deutschland und Europa abstimmen. Doch bald werde er Klartext sprechen. Die Zeit sei Reif für einen fundamentalen Wechsel. Und natürlich werde er nicht eher ruhen, als bis der Verantwortliche für Theas Tod  zur Rechenschaft gezogen wird.

Wie schlimm muss es um das Land stehen, wenn Aasgeier wie Klaas Weniger nach der Macht geifern? Wie schlimm muss es um Europa stehen? Was hat Nick Grün da alles nicht mitbekommen? Und was hat er übersehen? Übersehen…

Vielleicht ist es der Schock, oder die kalte Panik – Nick erwartet jeden Moment, dass ein Polizist die schwere Hand des Gesetzes auf Nicks Schulter sinken lässt. Schon die ganze Zeit widersteht er der Versuchung, sich umzusehen. Nicks Hirn arbeitet so schnell wie lange nicht.

Theas Satz bei ihrer ersten Begegnung, den Klaas gerade im Fernsehen wiederholt hatte: „Wir sterben alle, die Frage ist nur wann.“ Sinngemäß derselbe Satz, der auf Latein in Blut an Nicks Wand steht: „Mors certa, ora incerta.“ Derselbe Satz, den Nick in seinen Romanen verwendete, mehr noch: einem Serienkiller zuschrieb. Zufall? Letzteres sicher nicht. Ersteres? Vielleicht.

Aber es passt zu der Tatsache, dass für Klaas Weniger das Ganze alles andere als glatt gelaufen ist. Glatt wäre gewesen: Thea tot, Leiche schwimmt im See, Nick steht daneben mit der Tatwaffe in der Hand, Fall gelöst. Gut, Nick hat die Leiche verschwinden lassen – zumindest für den Moment – und der Polizist verhaftete ihn eben nicht. Im Gegenteil, er rettete ihn, indem er Nick in Handschellen von der Bühne führte. So dass der Scharfschütze auf der anderen Seeseite glauben musste, Nick sei in sicherem Gewahrsam. Der war mutmaßlich einer von Klaas‘ Männern, der Nick sofort abgeknallt hätte, falls er abgehauen wäre. Aber mutmaßlich hatte der Beobachter auch mitbekommen, dass die Sache nicht glatt gelaufen war und das sicher an Klaas weitergegeben: Grün verhaftet, aber Leiche weg. Trotzdem tritt Klaas Weniger wenige Stunden später vor die Presse. Warum? Welchen Zeitplan muss er einhalten? Oder hat er die Leiche längst wieder hochtauchen lassen? Egal.

Viel wichtiger: Der Schriftzug, der Smiley, das Blut im Wohnzimmer, es passt nicht zur Geschichte. Dafür zu einem fiktiven Serienkiller aus Nicks Krimis und zu Thea. Warum das alles so war, vermag Nick nicht zu sagen. Aber vielleicht bleibt ihm die Möglichkeit, zu testen, ob er auf der richtigen Spur ist. Oder es ist schon zu spät?

Nick tastet in seiner Tasche nach dem Handy, das ihm Sergeant Kerr gegeben hat. Gleich wählt er die einzige Nummer, die eingespeichert ist.

Vorher raucht er aber noch eine Zigarette.

Weil er einen Gedanken genießt. Jetzt ist er ganz klein. Fast hätte er vergessen:

Nur die Großen können ganz klein werden. Thea wusste das.

 

Kapitel I, letzte Szene

Ganz unten im Tal

Nick wählte die einzige Nummer in seinem Telefon. Es klingelte lange. Dann kam ein „Ha?“
„Ich höre die örtlichen Behörden sind sehr beflissen“, sagte Nick trocken.
„Ah! Sie haben das Medium Fernsehen für sich entdeckt, immerhin ein Anfang. Vielleicht kann ich sie auch für das Netz begeistern. Da ist es gerade noch viel spannender.“
„Reden Sie nicht mit mir, als wäre ich aus dem letzten Jahrhundert.“
„Ein Mann, der nicht einmal den Brexit mitbekommen hat, sollte hier den Mund wirklich nicht zu voll nehmen, Green. Ich hoffe, Sie haben wenigstens die Basics der Flüchtlingskrise mitbekommen. Wäre auch nicht ganz unwichtig für Ihren Fall, denke ich“
Refugee crisis,… Nick hatte den Verkäufer in seinem Tante Emma Laden davon reden hören. Offenbar sollte Schottland bald von Horden gewaltbereiter Muslime überrannt werden, die dann alle seine Frau vergewaltigten. Nick Grün hatte Mrs McFuller einmal dabei beobachtet, wie sie mit der nackten Hand eine Schmeißfliege erschlug und sich den Kadaver an ihrem Schnurrbart abwischte.

Schon damals hatte er sich gefragt, wer je so verzweifelt sein konnte. Aber diese Muslime schienen auch einfach keinen Geschmack zu haben. Nick tat es damals als die typische Xenophobie eines Kleinstädters ab. Aber offenbar hatte sich die ganze Geschichte zu einer Krise entwickelt. Sobald diese ominösen Muslime Mrs McFuller wirklich vergewaltigt hatten, war Nick bereit, sich ernsthafter damit auseinanderzusetzen. Bis dahin hatte er andere Probleme. Nick Grün ignorierte Kerrs letzten Einwand. Kerr ging dafür auf seine Frage ein: „Die örtlichen Behörden, damit meine ich mich, haben vielleicht noch eine Stunde. Dann wimmelt es hier von Spezialeinheiten aus Scottland Yard.“
„Sind Sie in ihrer allzu sehr begrenzten Stellung in der Lage, ein Labor zu beanspruchen.“
„Ja.“
„Nehmen Sie eine Blutprobe vom Teppich, eine von der Wand und eine von Thea König, lassen Sie sie vergleichen.“
„Thea König wird schwierig, außer, sie wollen dass ich einen Schnorchel trage, wenn die Jungs aus der Hauptstadt anrücken.“
„Richtig. Aber Sie brauchen doch bloß ihre DNA.“
„Ja.“
„Schön. Die bekommen Sie auch so. An meiner Kommode haben Sie ja schon rumgefingert. Im dritten Fach von oben befindet sich eine schwarze Schachtel. Nehmen Sie sie bitte ganz mit.“
„Was ist da drin? Doch kein Finger odersowas?“
„Eine Haarlocke und viele Briefe. Beides müssen Ihre Kollegen nicht in die Finger bekommen.“
„Haben Sie einen Verdacht?“
„Eine Theorie. Aber sonst tappe ich genauso wie Sie im Dunkeln. Mit dem einzigen Unterschied, dass Sie sich sicher sind, dass ich Thea nicht umgebracht habe.“
„Achso?“
„Na sonst hätten Sie mich doch nie gehen lassen.“
„Ich sehe das so: Ich habe Sie laufen lassen, um das ganze Komplott dieser links-fundamentalistischen wasauchimmer Verschwörung aufzuklären. Und ich bin der einzige der Sie jederzeit orten kann.“
Nick nahm sein Handy vom Ohr und starrte es an. „Stimmt“, sagte er wieder am Hörer. „Und ich vertraue Ihnen trotzdem.“
„Why?“
„Weil Sie ein korruptes Arschloch sind, dass wesentlich schlauer ist, als es aussieht und mich nach fünf Sekunden durchschaut hat.“
Sergeant Kerr sagte lange nichts. Nick hatte das Gefühl, dass es gerade sehr intim zwischen den beiden fast unbekannten Männern wurde.
„Nehmen Sie’s nicht so schwer Green. So einen eifrigen Ermittler von Scottland Yard hätten Sie Wochenlang mit Ihrem Charme an der Nase rumführen können.“
„Und in dem Moment, in dem ich die Terrasse ohne Handschellen verlassen hätte, wäre ich dank des Scharfschützens auf der anderen Seeseite tot gewesen.“
„Ja. Witzig, oder? Wie das Leben so spielt.“
„Werden Sie Probleme bekommen wegen mir?“
„Ja, aber wie Sie sagen. Ich bin ein korruptes Arschloch. Ich bin Probleme gewohnt. Was haben Sie jetzt vor?“
„Ich werde mich rasieren. Für den Anfang.“
„Mr Green, ich sage das nur ungern. Aber vielleicht wäre es an der Zeit, sich einen guten Anwalt zu suchen, jetzt, wo Sie noch die Möglichkeit dazu haben.“
„Ich weiß genau, wen ich jetzt suchen muss. Und ein Anwalt ist es sicher nicht. Aber etwas Ähnliches.“
Der Polizist zögerte am Telefon, dann machte er ein unbestimmtes Geräusch. Nick konnte nicht beurteilen, ob es anerkennend oder überrascht klang. „Was glauben Sie, kommt bei den Laborergebnissen heraus?“
„Eine Spur“, sagte Nick. „Ich melde mich wieder.“

Irgendein Küstenort in Nordfrankreich. Ein Mann kauft sich Rasierzeug in einem kleinen Tante-Emma-Laden.

Eine Terrasse über dem Tegernsee. Ein Mann blickt über das Tal, das er als sein eigenes betrachtet.

Der Weg unterhalb derselben Terrasse. Eine junge Reporterin tritt auf dem Rückweg von Klaas Wenigers Pressekonferenz missmutig gegen einen Kieselstein. Sie weiß, das etwas nicht stimmt.

Dalmatien. Eine Villa an einem Berghang, auch mit einer Terrasse, auf die nun ein alter Kroate tritt, nachdem er seinen Fernseher ausgeschaltet hat. Nachdenklich schaut er über die Adria. Dann nimmt er auf einem Gartenstuhl platz, zündet sich eine Zigarre an und wartet. Es dürfte nur wenige Tage dauern, bis jemand kommt.

Ende des ersten Kapitels.